Gewitterschwüle auf Hiddensee

1Vorbemerkung : Die Helden dieser kleinen Geschichte haben im Laufe des Schreibens ihr Eigenleben entwickelt, so dass Ähnlichkeiten mit persönlich bekannten oder gar im Raum anwesenden Personen nur durch Zufall Zustandekommen.

Der Autor

 

 

Adele Steinkamp war mit sich und dem bisherigen Tag sehr zufrieden. Sie hatte erst nach einigem Zögern Professor Dr. Adolf Lautenschlags Idee zugestimmt, auf Hiddensee im Banne der Johannisnacht den Sommer willkommen zu heißen. Kennen gelernt hatten sie sich im Spätherbst bei einer Vortragsreihe im Rudolf-Steiner- Haus in Zehlendorf. An vier Mittwochabenden äußerten sich die Koryphäen der Berliner Anthroposophischen Gesellschaft zum Thema »Die Erfahrung des Übersinnlichen als persönliche Reifungschance«. Vielleicht war es Einsamkeit inmitten dieser vielen Frauen, die gebannt an den Lippen des Referenten hingen und ihn zu immer exzessiveren Höhenflügen animierten, die sie zueinander finden ließ. Wie von selbst war man ins Gespräch gekommen und sich sehr schnell einig gewesen, dass so manchem der hier Anwesenden ein wenig mehr Erdenschwere guttun würde. Ein Übereinklang der Empfindungen, der anschließend in einem kleinen gemütlichen Weinlokal in Dahlem noch vertieft werden konnte. Schon nach dem zweiten Vortragsabend hatte man die Telefonnummern ausgetauscht.


Anfang Dezember lud Professor Lautenschlag Adele zu einer besinnlichen Adventsstunde zu sich nach Hause ein. Es gab erlesene Lebkuchen von Kranzler. Im Frühjahr war man noch einmal einer Einladung der Anthroposophischen Gesellschaft gefolgt. Doch auch diesmal, jetzt allerdings schon mit einer gewissen Resignation, empfand man die geistige Luft dieses Kreises als eigenartig dünn und die meisten Anwesenden in einem seltsamen Höhenrausch befangen. So mancher, der nun diesem seltsamen Paar nachsah, konnte sich eines Lächelns nicht erwehren. In einem Anflug von Übermut hatten sie die Schuhe ausgezogen und sprangen ab und zu, wie übermütige Kinder, den langsam heranrollenden Wellen entgegen. Der in die Höhe geschossene Professor, der jeden Anschein von Hochnäsigkeit vermeiden wollte, hatte es sich angewöhnt, den Oberkörper leicht nach vorne abzuwinkeln. Doch trotzdem wirkte, an ihm gemessen, Adele Steinkamp klein und zierlich. Nur wer genauer hinzusehen verstand, spürte, dass diese Frau in ihrer Resolutheit den Platz von zwei gewichtigen Personen einzunehmen in der Lage war.


Es war schon nach fünf Uhr, als man das Gerhard-Hauptmann-Museum in Kloster erreicht hatte. Professor Lautenschlags Nase zeigte eine gefährliche Rötung, so dass Adele Steinkamp fast Schuldgefühle bekam, nicht energischer auf der Benutzung ihres biologischen Sonnenöls bestanden zu haben. Die Kasse des Museums war nicht besetzt. Erst jetzt, zum Stillstehen verurteilt, spürten beide eine zunehmende Müdigkeit. Die frische Luft und die Hektik vor der Abreise forderten nun ihren Tribut. Adele Steinkamp entdeckte die Kassiererin, eine schlanke blonde Frau um die Dreißig, in angeregtem Gespräch mit zwei jungen Männern. Einzelnen Gesprächsfetzen entnahm man, dass sie wichtigen Stationen im Leben Rudolf Steiners nachwanderten. Für Weimar hatten sie sich drei Tage Zeit genommen. Doch schon hier war die Fülle der Eindrücke und die gespürte Nähe des geliebten Meisters so überwältigend gewesen, dass man sich eine Ruhepause verordnen musste. Erst nach diesem Wochenende wollten sie sich dem Moloch Berlin zuwenden, der ihren spiritus rector in eine tiefe seelische Krise gestürzt hatte. Es war nicht Adele Steinkamps Art, anderen hinterherzubetteln. Professor Lautenschlag, der sichtlich erschöpft war, nahm ihre Entscheidung, das Museum erst morgen zu besuchen, dankbar an. Kuchen statt Kultur war angesagt. Ein Entschluss, den zumindest Professor Dr. Lautenschlag nicht bereuen sollte. Er trank Schoko mit Sahne. Aß dazu eine Sacher und eine Schwarzwälder-Kirsch-Torte. Ließ sich dann noch von einem Schweinsohr verführen, das er allerdings nur noch zur Hälfte schaffte. Adele Steinkamp trank grünen Tee und aß einen Zwetschgenkuchen aus Hefeteig ohne Sahne. Unauffällig und stilvoll distanzierte sie sich auf diese Weise von Professor Lautenschlags Völlerei. Es war noch angenehm warm, als man in einer Pferdedroschke nach Neuendorf, wo man Quartier genommen hatte, zurückfuhr. Einer Empfehlung ihres Gastwirtes folgend, wollten sie »Bei Rosi«, einem erst kürzlich eröffneten Lokal, das Abendessen einnehmen.


»Bei Rosi«


2Es ging bereits auf neun Uhr zu, als sie sich auf den Weg machten. Eine Zeit also, wo man seinem Magen eigentlich keine schwere Kost mehr zumuten sollte. Eine Ansicht Adele Steinkamps, der Professor Lautenschlag heftig widersprach. Das Lokal war natürlich überfüllt. An einen Platz draußen war überhaupt nicht zu denken. Selbst drinnen drängten sich die Gäste. Allein an einem großen Tisch, der ganz offensichtlich als Stammtisch gedacht war, saß nur ein älteres Ehepaar. Wählte man die Stühle am entgegengesetzten Ende, hatte man doch noch das Gefühl, für sich zu sein. Da aber beide Paare einer Generation angehörten, für die ein gewisses Maß an höflichen Umgangsformen noch selbstverständlich ist, baten die Neuhinzugekommenen, Platz nehmen zu dürfen, und stellten sich kurz vor. Der ältere Herr erhob sich und machte eine knappe Verbeugung, »Obermedizinalrat Dr. Angust Wustmann«. Seine Fülle verriet, dass er nicht nur an diesem Abend das Leben zu genießen verstand. Die Dame an seiner Seite stand ebenfalls auf. Errötete leicht und hüstelte ein »Grete Doppler«. Keiner hätte aus diesem eher verstörten Auftreten schließen können, dass sie eine wichtige Sekretärin in einer Donnersmarck-Stiftung war, die sich um die Rehabilitation gefallener Mädchen aus der gehobenen Gesellschaftsschicht kümmerte. Eigentlich war damit der Form Genüge getan. Doch der von beiden Herren geteilte akademische Rang zwang sie, ein paar Sätze hinzuzufügen, worauf auch die Damen ein paar Belanglosigkeiten über das Wetter äußerten. Nun hätte sich der von Adele Steinkamp ersehnte Abstand einstellen können, wären nicht an der Eingangstür zwei Gestalten erschienen, die sich hilfesuchend umsahen. Schließlich näherten sie sich schüchtern dem großen Tisch, der als einziger noch Platz bot. Der femininere der beiden, der durch die Last seines Schicksals zu schwanken schien, fragte höflich an, während der ältere, der einen Kopf kleiner war, ihm fürsorglich die Hand hielt. Es waren die beiden Studenten aus dem Museum. Die beiden Paare nickten und der vorgesehene Graben war überbrückt. Ein Blick auf Grete Dopplers Teller zeigte, dass das dem Lokal vorauseilende Gerücht von Riesen-Portionen durchaus zutraf. Im Originalzustand musste das Schnitzel die Größe eines Suppentellers gehabt haben. Selbst jetzt, wo sich Grete Doppler bereits abgemüht hatte, war noch ein so großes appetitliches Stück vorhanden, dass allein davon ein zweiter Gast hätte satt werden können. Auch Dr. Wustmann, der ein gut trainierter Esser war, hatte vorzeitig aufgeben müssen. Fast traurig blickte ein beachtlicher Rest Seezunge in leckerer Weinsoße die beiden Studenten an. Sie sahen die vorhandene Fülle mit einer Mischung aus Wehmut und Hoffnung. Dr. Wustmann hatte sich zu seiner Seezunge bereits drei Flaschen süffigen Veltiner Starkbiers genehmigt, so dass er bereits in redseliger Stimmung war, als die neuen Gäste hinzukamen. Grete Doppler trank, was auch ihre geröteten Backen verrieten, Tee mit Rum. Diese Wahl erlaubte es ihr, dem Alkohol zuzusprechen, ohne deshalb mit ihrem Selbstbild in Konflikt zu geraten.


3Von der anfänglichen Schüchternheit war nun nichts mehr zu spüren und sie sprudelte fast über mit Anekdoten aus ihrem beruflichen Alltag. Adele Steinkamp nahm es mit einem gewissen Befremden zur Kenntnis. Professor Lautenschlag dagegen stimulierte durch immer neue Nachfragen die eh schon Geschwätzige, mit immer mehr Details herauszurücken. Da sie regelmäßig die Markantesten ihrer Klientel zum Mittagessen in die nahegelegene BVG-Kantine am Kleistpark einlud, konnte sie durchaus die Neugier beider Doktoren befriedigen. Die beiden Studenten, die bereits durch die Wahl von Malzbier eine gewisse asketische Einstellung dokumentierten, bemühten sich, mehr soziale Aspekte ins Gespräch zu bringen. Besonders die Fragen des Älteren sorgten für mehr Tiefgang. »Was, wenn soziale Not als Beweggrund wegfällt, trieb die Damen in das Laster?« Grete Doppler antwortete mit dem Hinweis auf ein Mädchen, dessen Vater Pastor auf einer ostfriesischen Insel ist. Sie kam mit 18 Jahren nach Berlin, ließ sich eine Glatze scheren und zog als Edelnutte selbst Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens an. Wollte sie mit ihrem Laster gegen ihr religiöses Herkunftsmilieu protestieren? Bot vielleicht selbst eine solche Lebensform die Chance seelischen Reifens?
Der ältere Student zitierte als Beleg einen Rudolf-Steiner-Satz, der allerdings nicht in der Gesamtausgabe steht und nur in den eher anarchistisch orientierten Zirkeln gehandelt wird. Sein Freund verfolgte diesen Grundton mit einer gewissen Ängstlichkeit. Er war dankbar, dass kurz danach die abgesprochene Zigarettenpause fällig wurde. Beide gingen nach draußen. Der eine von seiner Sucht getrieben und der andere aus Solidarität mit der bedürftigen Kreatur.


Dr. Wustmann hatte nichts gegen sanfte Männer. Aber irgendwann mussten sie sich nach seiner Meinung auch im Element des Rauschhaften bewähren. Er nutzte deshalb die Abwesenheit der beiden und ließ ihre leeren Flaschen durch zwei Flaschen Veltiner Doppelbock ersetzen. Adele Steinkamp sah es mit Tadel. Grete Doppler kicherte etwas nervös vor sich hin. Professor Dr. Lautenschlag, der sich zum Nachtisch einen »Hawai-Becher« bestellt hatte, schien den Vorgang gar nicht bemerkt zu haben. Auch die zurückgekehrten Studenten taten, als hätte sich nichts Außergewöhnliches ereignet. Sie tranken gehorsam das hingestellte Bier, das auf Grund seiner Süße durchaus eine gewisse Beziehung zum Malzbier aufwies.


Die Diskussion, die am Anfang durchaus einen Sog zum Triebhaft-Ordinären gehabt hatte, gewann nun durch die Einbeziehung des religiösen Elementes spürbar an Niveau. Professor Dr. Lautenschlag erinnerte an den heiligen Augustinus. Dieser hatte ein ausschweifendes Sexualleben geführt, bevor er dann zu einem der wichtigsten Kirchenväter wurde. Der Gedanke, dass man vor dem Frommsein eine Phase exzessiven Lasters einlegen sollte, schien besonders die beiden Doktoren anzusprechen. Es wurde allgemein bedauert, dass das Christentum in eine so einseitige Gegnerschaft zur Sexualität geraten sei und es sei deshalb kein Wunder, dass sich immer mehr junge Menschen östlichen Religionen zuwenden würden.


Dass die Herren nun zu einem neuen Wortschwall ansetzen wollten, lag auch an der Menge der inzwischen genossenen Spirituosen. Selbst Adele Steinkamp, die mit einem bescheidenen Viertel württembergischen Trollinger angefangen hatte, ließ im Laufe des Abends zwei weitere kommen. Zuerst, um gegen den Groll, den das in ihren Augen banale Thema provoziert hatte, wegzuspülen. Aber je länger man den Urgrund menschlicher Leidenschaften auszuloten suchte, um so heftiger hatten sie Erinnerungen an eigene Gratwanderungen am Rande der Tugend heimgesucht. Das dritte Viertel trank sie schon in einem Zustand wehmütiger Verzückung. Vielleicht hätte sie noch einen ganzen Liter geschafft. Doch die plötzlich eingetretene Stille im Lokal riss alle am Tisch aus diesem Taumel lautstarker Empfindungen.


Sie sahen sich um und erfassten, dass sie die letzten Gäste waren. Nur noch an der Theke stand, für sie abkommandiert, eine Kellnerin. Verzweifelt hatte sie bereits seit einer halben Stunde durch langanhaltendes demonstratives Gähnen in Richtung Stammtisch den Aufbruch der angeheiterten Truppe angemahnt und war ignoriert worden. Deshalb hatte sie jetzt kurzer Hand die Musikanlage ausgeschaltet. Die Gesellschaft begriff und ging. Draußen erwartete sie eine wunderbare Juninacht. Der Himmel war mit Sternen übersät und mittendrin grinste selbstgefällig der Mond. Er hatte seine Diätwochen hinter sich gebracht und wollte sich am nächsten Abend in seiner Höchstform präsentieren. Sein Licht verhalf der Meeresoberfläche zu einem silbernen Fluidum, das wie man aus der Literatur weiß, nicht nur Schwangere und Irre, sondern auch Trunkene magisch anzieht. »Zum Meer! Zum Meer!« rief Grete Doppler. Und wie immer, wenn Dionysos, der Gott des Rausches, seine Hand im Spiel hat, hatten die von ihm Betörten jedes Zeitgefühl verloren und drängten in der Herde zum Strand. Zuerst Dr. Wustmann, der schon in jungen Jahren in der Verbindung »Teutonia« das Saufen geübt hatte und deshalb selbst jetzt, nach etlichen Litern Starkbier beherzt voranging. An ihm hing Grete Doppler, die er immer wieder neu unterhakte, wenn sie zu entgleiten drohte.


Dann folgten die beiden Studenten. Ein beschönigender Satz angesichts ihrer schwankenden Bewegungen. Der intellektuellere, selbst jetzt noch bemüht, Fels und Stütze zu sein, hing wie ein Sack an der Brust des Freundes. Immer wieder sank er in sich zusammen und drohte dabei, auch den Geliebten umzuwerfen. Wenn einer von ihnen ab und zu einen klaren Gedanken fassen konnte, dann den: kein zweites Mal mehr Alkohol zu konsumieren, nur um Erwachsenen eine Freude zu machen. Als sie am nächsten Morgen im Gespräch diese spontane Übereinstimmung der Herzen entdeckten, schien ihnen selbst dieses Missgeschick ein Stück transzendenten Sinnes zu enthalten. Den Abschluss bildete Adele Steinkamp, die Professor Dr. Lautenschlag, dem Beispiel Wustmanns folgend, untergehakt hatte. Sie akzeptierte seufzend diese gutgemeinte Hilfestellung. Sie erlaubte es ihr, Professor Lautenschlag, der immer wieder vom Weg abzukommen drohte, energisch an sich zu ziehen.


Was als Naturerlebnis gedacht war, hatte unter diesen Umständen, um es im Jargon der Jugend zu sagen, eher den Charakter eines Rocky-Horror-Trips. Alle waren deshalb sichtlich erleichtert, als endlich der Strand erreicht war. Man tauschte einige tadelnde Sätze über die Einheimischen aus, die gar nicht wüssten, wie schön sie es hier hätten. Dann folgten angesichts der kosmischen Weite einige Augenblicke persönlicher Ergriffenheit, die jeder auf seine Weise nutzte. Grete Doppler hauchte ein »Einmalig! Einmalig!« Professor Lautenschlag musste gegen einen Brechreiz ankämpfen, so dass er diesen Moment gar nicht mitbekam. Dr. Wustmann konnte sich angesichts dieses angeschlagenen Haufens ein Grinsen nicht verkneifen, und Adele Steinkamp stand da in beredtem Schweigen. Der Fürsorgliche flüsterte dem Sanften einen Satz ins Ohr, den Rudolf Steiner einmal in Dornach angesichts eines Sternenhimmels geäußert hatte.


Damit war nun aber der Kultur im überreichen Maße Genüge getan, so dass man endlich an den Heimweg denken konnte. Während man sich in Bewegung setzte, versuchte Grete Doppler, die durch die frische Luft wieder etwas zu Besinnung gekommen war, »Der Mond ist aufgegangen« anzustimmen. Aber der Abend und ihre engagierten Beiträge hatten ihrer Stimme zugesetzt, so dass nur ein heiseres Krächzen zu hören war. Dr. Wustmann empfahl taktloser Weise eine Karriere als Blues-Sängerin. Eigentlich war niemandem mehr nach Singen zu Mute, so dass man die jetzt eintretende Stille geradezu genoss. Schon waren die ersten Häuser von Neuendorf zu sehen. In wenigen Minuten würde man in die heiß ersehnten Betten sinken. Da lag rechts des Weges eine Pferdekoppel. Sie war, wie auf der Insel üblich, nur unzureichend eingezäunt. Das hätte man ignorieren können, wenn nicht ausgerechnet jetzt dort sechs bis acht Pferde aufgedreht durcheinanderliefen. Jeden Augenblick musste man damit rechnen, dass sie bei ihrem Toben auch den Weg mit einbeziehen würden. Die erschöpfte Gesellschaft erstarrte. Der Zug stoppte. Dr. Wustmann und Grete Doppler zögerten. Den beiden Studenten war inzwischen alles unheimlich und sie hatten das Gefühl, sich in einem von höheren Mächten bestimmten Kraftfeld aufzuhalten.


Diese bedienten sich jetzt eines Engels: Adele Steinkamp. Den ganzen Abend hatte sie fast resignativ die Beschwörungen des Animalisch-Triebhaften verfolgt. Jetzt, wo man dieser Wirklichkeit real standhalten musste, war endlich ihre Stunde gekommen. Sie atmete tief durch. Riss den zögerlichen Professor mit sich und ging los. Die beiden Studenten, von soviel Tatkraft mitgerissen, folgten. Dann mit zweifelndem Kopfschütteln Dr. Wustmann und Grete Doppler. Es ging alles gut. Dass es auch anders hätte ausgehen können, erfuhr man am anderen Morgen von den Gastleuten. Gegen drei Uhr war ein angesoffener Tourist aus Berlin von den ausgebrochenen Pferden überrannt worden. Man entdeckte ihn, mit schweren Knochenbrüchen, erst gegen sieben Uhr. Er wurde sofort von einem angeforderten Hubschrauber in das Krankenhaus auf Rügen gebracht.

Der Ausflug


4Man hatte also allen Grund, dankbar zu sein, als man sich wie vereinbart bei strahlendem Sonnenschein um elf Uhr am Fahrradladen traf. Nachdem die letzten Wochen verdrießlich kühl gewesen waren, empfand man nun den plötzlichen Temperaturanstieg fast schon wieder als bedrückend schwül. Professor Lautenschlag kam bereits mit einem hochroten Kopf an. Grete Doppler hatte ihr Tiroler Trachtenkostüm angezogen, trug aber die Jacke bereits überm Arm. Sie bedauerte, nicht ihr Dirndl eingepackt zu haben, besprengte sich zur Erfrischung immer wieder mit Kölnisch Wasser. Ziel der Tour sollte der Leuchtturm am anderen Ende der Insel sein, der auf einer Anhöhe lag. Es wird jedem Unbefangenen einleuchten, dass bei so unterschiedlichen Charakteren die Wahl des richtigen Gefährtes eine geraume Zeit in Anspruch nahm. Am Leichtesten hatten es die beiden Studenten, die das vorhandene Tandem nahmen. Professor Lautenschlag, der zuletzt während seiner Studentenzeit geradelt hatte, liebäugelte mit einem Mountain Bike. Doch gelang es der feinfühligen Angestellten mit viel weiblicher List, ihn für ein solides Herrenrad zu gewinnen. Adele Steinkamp wählte lange und bedächtig und das mit gutem Grund. Denn Grete Doppler, die sich sofort von einer lustigen Mickey- Maus-Figur auf dem Lenker eines Damenfahrrades hatte anlocken lassen, bemerkte erst während der Fahrt, dass der harte Sattel ihrem zarten Hinterteil übel zusetzte. Dr. Wustmann wählte mit dem ihm eigenen Realitätssinn ein Rad, dessen Qualität exakt dem Preis entsprach.


Es ging also bereits auf halb ein Uhr zu, als man endlich den Aufbruch schaffte. Voran fuhr natürlich Adele Steinkamp, die von Anfang an durch die Vorgabe eines zügigen Tempos jeder Form von Trödelei entgegentreten wollte. Es folgten die beiden Studenten, die dieser Vorreiterin Respekt zollten, aber auch die älteren Herrschaften hinter sich nicht aus dem Blick verloren. Dann kamen Dr. Wustmann und Grete Doppler in einem gemächlichen Tempo, das ganz ihrer Lebensart entsprach. Das Schlusslicht machte, ganz entgegen seiner gesellschaftlichen Stellung, Professor Dr. Lautenschlag. Schon nach dem ersten Kilometer war ihm schmerzhaft bewusst geworden, dass seit seiner Studienzeit etliche Jahrzehnte ins Land gegangen waren. Wäre es nach ihm gegangen, hätte der Ausflug schon im nahe gelegenen Vieten enden können. Aber die Anderen waren bereits zu weit weg, als dass er sie hätte für diese Utopie gewinnen können.


Im Gegensatz zum gestrigen Freitag war heute auf der Insel die Hölle los. Die Schiffe hatten Hunderte von Touristen ans Land geschwemmt, die sich verzweifelt abmühten, einen Ausgleich zur Fron ihrer Arbeitswoche zu schaffen. Nicht wenige von ihnen versuchten es mit Hilfe von Alkohol. Es war deshalb nicht immer einfach, zwischen Bus, Pferdedroschken und Passanten, die sich manchmal völlig irrational verhielten, hindurch zu kommen. Nicht nur Professor Lautenschlag war erleichtert, als sich die Gruppe entschloss, die Fahrräder den Berg hochzuschieben. Adele Steinkamp war zuletzt vor einer halben Stunde von den Studenten gesehen worden. Oben am Leuchtturm herrschte ein unbeschreiblicher Trubel. Besonders unangenehm fiel eine Gruppe jugendlicher Fußball-Fans aus Greifswald auf. Sie hatten sich die T-Shirts von ihren verschwitzten Leibern gerissen und torkelten nun angesoffen und gröhlend durch die Gegend. Einige machten sich nicht einmal mehr die Muhe, schützendes Buschwerk aufzusuchen, wenn sie pissen oder kotzen mussten.
Vor dem nahen gelegenen Lokal standen die Menschen Schlange. Grete Doppler nutzte die Pause, um auf der Toilette ihr Halstuch anzufeuchten und in einer Kabine mit kühlen Umschlägen ihren brennenden Arschbacken Erleichterung zu verschaffen. Adele Steinkamp war auch hier oben nicht auffindbar. Wahrscheinlich hatte sie vor diesen Menschenmassen panikartig die Flucht ergriffen. An eine gemütliche Kaffeerunde war hier oben nicht zu denken. Man beschloss deshalb, nach Kloster zurückzukehren und dort ein Café aufzusuchen.


5Die Hitze hatte weiter zugenommen. Die Sonne war verschwunden und der Himmel hatte sich mit Wolken überzogen, ohne dass man sich deshalb freier fühlte. Irgendwann würde ein Gewitter losbrechen. Die Gruppe bestieg wieder die Räder, obwohl die hinunter strömenden Menschen ein zügiges Fahren eh verhinderten. Doch selbst das mäßige Tempo sorgte für einen leichten Fahrtwind, den man angesichts der Schwüle sehr genoss. Schon sah man unten die ersten Häuser von Kloster liegen. Nur eine leicht abschüssige Kurve trennte vom Ortsanfang und dem ersehnten Kuchenbuffet. War es jugendlicher Übermut, der Professor Dr. Lautenschlag animierte, kurz vor dem Ziel plötzlich voll in die Pedale zu treten? Wie von einer Vorahnung gepackt, sah sich Grete Doppler, die mit Dr. Wustmann die Vorhut bildete, um. Da kam der Professor um die Kurve geschossen. Sein Vorderrad geriet in einen Haufen, den ein Pferdefuhrwerk dort hinterlassen hatte und kam ins Rutschen. Der Reifen drehte sich leer und das Rad begann, nach rechts umzukippen. Der Professor hatte den Halt auf den Pedalen verloren. Seine Beine strampelten wild in der Luft. Wie in einem Anflug tiefer Verzweiflung warf er die Arme in die Höhe. Rad und Reiter begannen, nach rechts umzukippen. Da geschah das Wunder. Es nahte in Gestalt eines jungen Mannes, der blitzartig die Situation erfasste und den fallenden Professor auffing. Grete Doppler hatte ihrem Entsetzen in einem schrillen Schrei Luft verschafft, der auch Dr. Wustmann auf das sich vollziehende Unheil aufmerksam gemacht hatte. Als beide außer Atem am Unglücksort ankamen, hing der Professor, der die Augen geschlossen hatte, noch immer in den Armen seines Retters. Auch die beiden Studenten, die diese Tragödie in bedrückender Ohnmacht von oben hatten mitansehen müssen, waren inzwischen schreckensbleich hinzugetreten. Der Jüngere zitterte so stark, dass sich sein Freund leicht hinter ihn stellte, um ihn notfalls auffangen zu können. Es war Grete Doppler, die ja bereits Erfahrungen mit gefallenen Engeln hatte, die sich als Erste des seltsamen Heiligen annahm. Sein ausgezehrter Körper verriet ihr sofort, dass sich um ihn nicht die fürsorgliche Hand einer festen Freundin kümmerte. Der Hitze wegen hatte er sich seines T-Shirts entledigt. Auch die zerrissenen Jeans sorgten für sehr viel Luft, vor allem in einem Bereich, den man sonst besonders vor den Blicken Anderer schützt. Grete Doppler erfasste sofort, dass der Braunton, der durch die Löcher schimmerte, keineswegs von einer Unterhose oder einem Slip stammte. Man legte den erschöpften Professor auf die Wiese neben dem Straßenrand. Fragte mehrmals nach, ob er an Schwindelgefühlen oder Brechreiz leide. Dr. Wustmann überprüfte Atmung und Puls. Doch konnte er keine Unregelmäßigkeiten mehr feststellen. Der junge Mann schien auch seelisch auf den angeschlagenen Professor eine wohltuende Wirkung auszuüben. Die Überfürsorglichen verzichteten schließlich darauf, einen Rettungsdienst anzufordern. Man gab dem Wunsch Professor Lautenschlags nach, in einem Pferdefuhrwerk zurück nach Neuendorf gebracht zu werden. Auch das Rad, das vorne einen Achter aufwies, wurde aufgeladen. Dann stieg noch Tobias Mühsam, der rettende Engel ein, der in Neuendorf am Strand in einer Hütte Schlafsack und Klamotten versteckt hatte. Als Retter und Geretteter endlich auf den Weg gebracht waren, atmeten die Zurückgebliebenen erleichtert auf. Die Aufregung der letzten Stunde hatte sie alle die drückende Schwüle vergessen lassen. Nachdenklich machte man sich nun selbst auf den Heimweg. Grete Doppler hätte sich, schon ihres Hinterteiles wegen, gerne dem Fuhrwerk angeschlossen. Aber nicht zuletzt die jetzt wieder gemeinsam bewältigte Not zwang sie, Dr. Wustmann auch auf der letzten Wegstrecke die Treue zu halten.


Den beiden Studenten saß der Schrecken noch ganz gehörig in den Beinen. Fast im Schneckentempo näherten sie sich Neuendorf. Aber war dies nicht die angemessene Gangart angesichts der vielen existentiellen Fragen, die sich schwer auf die Brust legten: War es Zufall? Schicksal? Vorsehung? Woran lag es, dass das Unglück sich in Glück wenden konnte? War es Karma? Fügung? Verdienst? Und wenn ja, wodurch bewirkt? Man umkreiste diesen Fragenkomplex. Der Ältere wusste viel Erhellendes aus den geisteswissenschaftlichen Studien Rudolf Steiners beizutragen. Aber eine Antwort, »die« Antwort, fanden sie nicht. So überfiel sie angesichts der Offenheit so vieler Weltenrätsel eine tiefe Resignation. Sie fuhren das letzte Stück schweigend und sogar ohne Zigarettenpause.

Das Unwetter


Man muss nicht unbedingt ein Esoterik-Freak sein, um die belebenden Kräfte des Wassers schätzen zu können. Auch die verschwitzten und erschöpften Helden unserer Geschichte erwachten unter dem erfrischenden Strahl der Duschen zu neuem Leben. Adele Steinkamp war zuerst außer sich geraten, als man ihr den schrecklichen Absturz und die wundersame Errettung Professor Lautenschlags schilderte. War auf dieser Reise nicht eigentlich sie verantwortlich für diesen liebenswürdigen Mann, der sich in lebenspraktischen Dingen oft wie ein großes Kind verhielt? Aber da Selbstzerknirschung keine ihrer herausragenden Charaktereigenschaften war, machte sie sich gegen neun Uhr bereits wieder frohgemut und nach Maiglöckchen duftend auf den Weg zu »Rosi«. Grete Doppler bevorzugte eine im europäischen Kulturkreis ungewohnte Duftnote. Diese verhalf ihr – so jedenfalls sah sie es – zu einem Hauch von Rätselhaftigkeit. Dr. Wustmann hatte bei Aldi ein preiswertes Deo entdeckt, das nicht süßlich roch und seinem Benutzer das Gefühl gepflegter Sauberkeit vermittelte. Die Studenten wuschen sich mit einer im Bioladen gekauften Kernseife. Sie reinigt zwar gründlich, hinterlässt aber keine anhaltenden Duftspuren. Professor Lautenschlag, noch immer mitgenommen von den Schicksalsschlägen dieses Tages, fiel nach der Rasur sein Rasierwasser »men only« zu Boden und zersplitterte, so dass nun an seiner Stelle das Badezimmer seiner Pension stank.


6Aber so sehr sich diese Menschen auch abmühten, auf ihre Umwelt einen appetitlichen Eindruck zu machen: kaum waren sie wieder der Bullenhitze draußen ausgesetzt, roch jeder wieder so, wie ihn der liebe Gott ursprünglich konzipiert hatte. Kaum hatte man zueinander gefunden, waren alle Dr. Wustmann überaus dankbar. Denn dieser hatte in weiser Voraussicht bei Rosi ab 18 Uhr den Stammtisch für neun Personen reservieren lassen. Schon beim Eintreten mussten sie sich an Gästen vorbeidrängen, die frustriert auf einen Sitzplatz anstanden. Als Tobias Mühsam eintraf, war man schon mitten im Bestellen. Statt den zerrissenen Jeans trug er jetzt ein T-Shirt, das ebenfalls beachtliche Löcher aufwies. Auf der Brust stand in pinkfarbenen Lettern die Message: »Legalize Pot«. Grete Doppler, neben der er Platz nahm, sah sofort, dass die knappe Turnhose fast noch mehr preisgab als der zerrissene Putzlappen des Nachmittages. Sie gab sich redlich Mühe, nur das große Fleischstück auf ihrem Teller zu begutachten. Man trank literweise Mineralwasser pur oder Apfelsaftschorle. Aber irgendwann hatte Dr. Wustmann diese Kneippschen Wasserkuren über und bestellte für den Tisch eine Runde Stettiner Pils. Der Alkoholgehalt sei, so argumentierte er, gleich Null und das flüssige Brot würde eh wie von selbst die Kehle runterlaufen. Die Damen protestierten energisch und mussten stattdessen eine Weißweinschorle trinken. Auch der ältere Student wagte einen vorsichtigen Einwand, dem er noch zusätzlich mit einem gutmütigen Lachen jede Spitze nehmen wollte.


Doch ausgerechnet in diesem Moment kam auf einer silbernen Platte Professor Lautenschlags Forelle. Alle brachen in ein lautes Ah und Oh aus. Jeder dachte angesichts des Umfanges dieses Monsters sofort an eine Genmanipulation. Vielleicht hatte man auch nur versucht, einen Karpfen mit einer Forelle zu kreuzen. Das still vor sich hinglotzende Tier schwamm in einem Meer von grüner Dillsoße, das von einem Kartoffelgebirge beachtlicher Höhe eingerahmt wurde. Selbst ein gestandener Bauarbeiter hätte bei dieser Größenordnung kapitulieren müssen. Doch als hätte die Last dieses Tages Professor Lautenschlag um seine ganze körperliche Substanz gebracht, aß er – um es doch noch dezent auszudrücken – sich allein durch dieses Schlaraffenland. Ja, er bestellte zum Nachtisch noch Wiener Apfelstrudel mit Vanillesoße, der aber dann – Gott sei gedankt – fast ganz seinem Retter Tobias zugute kam. Überhaupt hatten an diesem Abend die jungen Leute Unmengen zu bewältigen. Die Damen hatten sich in einem Anflug von Gier auf normale Portionen eingelassen. Doch die im Lokal herrschende dicke Luft bremste sehr schnell ihren Appetit, so dass mit der Zeit immer mehr zugeschobene Platten und Schüsseln den Einsatz der Jugend forderten. Sie unterwarfen sich diesem Arbeitsdienst mit gutem Appetit.


Allein Dr. Wustmann hatte klugerweise nur einen Krabbencocktail bestellt. Aber selbst diese kleine Schüssel wurde auf einer Platte serviert, belagert von unzähligen grünen Salatblättern. Ein ganzer Salatkopf hatte sterben müssen, nur um die eh schon privilegierten Krabben aufzuwerten. »Wenn es aber schon auf dieser Ebene der Evolution keine Gerechtigkeit gibt ...«, grübelte der ältere Student und kippte sein mundiges Stettiner Pils hinunter. Grete Doppler wurde durch ihr wundes Hinterteil gehindert, wieder eine tonangebende Rolle zu übernehmen. Obwohl sie bereits eine halbe Dose Nivea investiert hatte, war keine Linderung eingetreten. Nun versuchte sie durch Vorbeugen des Oberkörpers, durch die Verlagerung des Gewichtes auf die vorderen Fußballen und ab und zu durch heimliches Aufstehen das gestresste Gewebe vom Druck zu entlasten. Als wollte Dr. Wustmann für sie einspringen, hatte er mit Witz und Laune die Gesprächsführung übernommen. Adele Steinkamps Angst, er könne allzu schnell ins Schlüpfrig- Banale abgleiten, erwies sich als völlig unbegründet. Dr. Wustmann präsentierte sich als humanistisch gebildeter und geistreicher Moderator. Während die Anderen am Tisch noch mit der Bewältigung des Materiellen beschäftigt waren, begann er: »Das Wort ist eines der wenigen arabischen Worte, die Eingang in den europäischen Wortschatz gefunden haben. heißt übersetzt .« Da Adele Steinkamp der Meinung war, dass man Männern frühzeitig Grenzen setzen müsse, fiel sie gleich hier ein: Es sei typisch für männliche Arroganz, dass man nun auch gleich den Geist für sich beanspruche. Sie sei überzeugt, dass »die anima« in der Schöpfungsgeschichte sehr viel wohltuendere Taten vollbracht habe. Die drohende Disharmonie zwang den älteren Studenten, einzugreifen. Jede Polemik vermeidend, wies er sanft daraufhin: »Wandelt sich nicht unser guter deutscher Vater im Italienischen in die reizvolle Göttin ?«
Die noch Essenden waren wegen des plötzlichen Tiefganges etwas aufgeschreckt und starrten den Redner an. »Sind deshalb nicht auch wir aufgefordert, uns die Eigenschaften des jeweils anderen Geschlechtes zu eigen zu machen?«

Wahrscheinlich hatte er bei dieser Theorie seinen Freund vor Augen, der Feminines und Männliches so apart zu mischen verstand. Alle spürten den Brustton der Überzeugung, den es zuerst einmal anzuerkennen galt. Nur Dr. Wustmann ließ sich seine Skepsis deutlich anmerken. Professor Lautenschlag, der genau wusste, dass in der Geschlechterfrage mit seiner Freundin nicht gut Kirschen essen war, versuchte dem Gespräch eine andere Richtung zu geben. Er war mit einem Doppelkorn seiner Verdauung zur Hilfe gekommen. Jetzt setzte er nach einem kurzen Schluckauf zur Frage an: »Wie kommt der in die Spirituosen?« Schelmisch wies er darauf hin, dass man noch heute in manchen Gegenden Deutschlands bei Schnaps von »geistlichen Getränken« rede. Adele Steinkamp war über diese Gesprächswendung nicht sehr glücklich, aber erleichtert, dass der Professor das neue Thema nicht für einen zweiten Doppelkorn nutzte. Nun war einer der wenigen Augenblicke, in denen sich Tobias Mühsam zu Worte meldete. Alk verdumme und ohne Alk könnten die Politiker nicht mehr den Massen auf der Nase herumtanzen. Angesichts der vierten von Dr. Wustmann spendierten Pilsrunde eine durchaus gewagte These, zumal der Kritiker durchaus mit soff. Aber da es sich um Professor Lautenschlags Retter handelte, nahm man dem jungen Mann diesen radikalen Gestus nicht weiter übel. Bei dem Versuch, den Begriff »geistlich« zu klären, gerieten die beiden Doktoren aneinander.

7Professor Lautenschlag war einmal Messdiener gewesen und wollte vor der Pubertät sogar katholischer Priester werden. Bei der Erinnerung an Orgelklang und Weihrauchduft traten dem alten Herrn die Tränen in die Augen. Dr. Wustmann war im Freidenkermilieu aufgewachsen. Er war schon als Kleinkind auf das FKK-Gelände am Müggelsee mitgenommen worden und sah in allem, was mit Kirche zu tun hatte, nur Volksverdummung.Der Streit nahm so heftige Formen an, dass sich die drei jungen Männer wieder einmal diskret zu einer Zigarettenpause zurückzogen. Der körperlich Labile zog an seiner Zigarette. Sein Freund sah ihm mit einer Mischung aus Schmerz und Mitgefühl zu. Tobias Mühsam entnahm seinem Brustbeutel eine kleine Pfeife, erhitzte in etwas Alufolie klebriges Zeug und rauchte dann die Krümel. Als man zurückkam, ging es am Tisch wieder friedlicher zu. Die beiden Damen hatten eingegriffen und die beiden Männer zur Raison gebracht. Adele Steinkamp hatte das Gespräch geschickt auf Professor Lautenschlags Liebling, den heiligen Augustin, gebracht. Und als es wieder einmal um Moral ging, sagte Professor Lautenschlag selig: »Liebe Gott und dann tu, was Du willst.« Er hatte sich diese Lebensmaxime auch zu eigen gemacht, obwohl er nie die sexuellen Freizügigkeiten seines Vorbildes gewagt hatte. Die beiden Damen sahen inzwischen manchmal nervös auf Tobias Mühsam hin, der mit weit aufgerissenen Augen in einer Art Trance zu weilen schien und manchmal unter den Tisch zu rutschen drohte. Grete Doppler bemühte sich, nicht auf die Turnhose zu sehen, die angesichts des Chaos seines Trägers weiter verrutscht war. Als hätte ihn der Satz des Professors zurück ins Leben geholt, murmelte Tobias: »Liebe Gott und dann mach, worauf Du Bock hast.« Stille trat ein und eigentlich war jetzt für diesen Abend auch wirklich alles gesagt. Sie waren auch diesmal die letzten Gäste. Sie traten nach draußen und erschraken. Der Himmel war pechschwarz. Drüben, auf Rügen, tobten bereits Blitz und Donner. Jederzeit konnte das Unwetter auch hier losbrechen.

Obwohl man sich wahrscheinlich nie mehr begegnen würde und doch so etwas wie Nähe entstanden war, fand man nicht einmal mehr die Kraft für den Kult des Abschiednehmens. Alle stoben auseinander. Grete Doppler keuchte die Treppe zu ihrer Dachkammer hoch. Hier staute sich die Hitze. Sie riss das Fenster auf. Von draußen drang warme Luft ins Zimmer. An Schlafen war nicht zu denken. Ihr Herzschlag probte den Aufstand. Sie schloss das Fenster und stürzte wieder nach unten. »Nur hinaus! Nur hinaus!« hämmerte es in ihrem Gehirn. Sie rannte zum Strand. Da fielen die ersten heißen Tropfen. Panik überfiel sie. »Wohin? Wohin?« Da sah sie die Hütte. Sie lag oberhalb der Böschung, Neuendorf zu. Als sie unter dem Vordach stand, brach das Unwetter los. Wie auf Kommando öffnete der Himmel seine Schleusen. Als hätten die Wellen auf diesen Einsatzbefehl gewartet, stürmten sie gegen das Ufer. Im Nu hatte der Strand kapituliert und war nun Teil des tosenden Aufstandes. Sie stand da. Bleich. Zitternd. Im Nu durchnässt. Sie musste sich an der Brüstung festhalten, um von Sturm und Wellen nicht nach unten gerissen zu werden. Doch nicht nur die Geister von Luft und Wasser tobten. Auch die Pforten der Unterwelt schienen sich geöffnet zu haben. Aus der Hütte kamen seltsame Laute. Mal klang es wie Stöhnen, dann als ob jemand nach Atem rang. »Ja, saug!« rief ein Gnom. Ein anderer grunzte: »Ja, nimm mich!« Jemand fiel gegen die Wand, die rhythmisch zu schwingen begann. Grete Doppler versuchte, gegen den Alptraum dieser Nacht anzuatmen. Sie machte die Augen zu. Als sie wieder zu sich kam, begrüßte sie ein strahlender Sternenhimmel. Die Wolken hatten sich verzogen und Gevatter Mond tat so, als wäre alles wie immer. Die Luft war warm und mild. Der Sommer hatte seinen Einzug gehalten. Auch in der Hütte war es still geworden. Sie hörte tiefe Atemzüge. Einer schnarchte. Der Dritte schien im Schlaf zu reden: »Geil! Geil! Geil!«

Grete Doppier setzte vorsichtig einen Fuß nach unten. Der Boden hielt stand. Die Erde hatte ihr Selbstvertrauen zurückgewonnen. Als sie auf die Häuser zuging, fiel ihr ein Gedicht ein, das sie als Kind in der Realschule gelernt hatte:


» Wie liegt im Mondenlichte
Begraben nun die Welt.
Wie wehlich ist der Friede,
Der sie umfangen hält.
Die Winde müssen schweigen.
So sanft ist dieser Schein.
Sie säuseln nur und weben
Und schlafen endlich ein.
Und was in Tagesgluten
Zur Reife nicht erwacht,
Das öffnet seine Blüten
Und duftet in die Nacht.
Wie bin ich solchen Frieden
Seit Langem nicht gewohnt.
Sei Du in meinem Leben
Der liebevolle Mond. «

Nachklang


Adele Steinkamp und Professor Dr. Adolf Lautenschlag standen am Deck des ersten Schiffes, das an diesem frühen Sonntagmorgen zurück nach Stralsund fuhr. Sie wollten sich dem heutigen Trubel nicht mehr aussetzen und stattdessen die historischen Denkwürdigkeiten der alten Hansestadt besichtigen. Es waren nur wenige Menschen an Bord. Aus dem Speisesaal war Musik zu hören. »Seemann, lass das Träumen! Denk nicht an Zuhaus. Seemann! Wind und Wellen treiben Dich hinaus!« Die Insel, die heute Nacht noch ein Opfer von Wind und Wellen gewesen war, lag friedlich da im Strahl der warmen Morgensonne. Über ihnen flatterten Möwen und stießen angesichts von so viel Nichtbeachtung schrille Schreie aus. Der Mond war noch als schwache Scheibe am Himmel zu sehen. Sein silbernes Fluidum hatte dem warmen Goldglanz der Sonne weichen müssen.
Sie sahen auf die Insel und den Strand. Rechts außen war eine kleine Hütte zu sehen, die sie beide spontan an die Erzählung »Robinson Crusoe« erinnerte. »Eigentlich war es schön. Wenn auch ganz anders, als ich erwartet hatte«, dachte Adele Steinkamp. Der Friede hatte sie hinterrücks eingeholt. Sie sahen auf den Strand, der immer kleiner wurde. Die Hütte war nur noch als Punkt zu ahnen. »Was sich der liebe Gott wohl gedacht hat, als er die Menschen schuf«, sagte Professor Lautenschlag halblaut. Ja, was wohl?


Berlin, im Dezember 1997