Meine Erfahrungen mit Schwerstbehinderten

Meine Erfahrungen mit geistig und körperlich Schwerstbehinderten

 

Ich habe drei Jahre lang in einem Behindertenheim gearbeitet. Wenn ich davon erzählte, bekam ich oft zu hören: "Wunderbar, wie viel Liebe sie diesen armen Menschen entgegenbringen. Ich könnte das nicht." Diese Antwort drückt recht gut den Zwiespalt aus, den nicht wenige Menschen empfinden. Sie fühlen sich verpflichtet, auch im Behinderten den Menschen zu sehen und zu achten. Gleichzeitig provoziert sein Verhalten oft Abwehr bis hin zu Ekel.

 

Streiflichter aus einer unheimlichen Welt

 

Alfred ist ein schrecklicher Schleimer. Er kann nur Brei oder im Mixer Kleingemachtes essen. Manchmal ist sein Schleimfluss so heftig, dass sich sein Teller eher füllt als leert. Er schlingt das Essen hinunter. Dort muss es noch eine ganze Weile vor sich hin faulen. Anders lässt sich sein bestialischer Mundgeruch nicht erklären.

 

Gerhard, der im Rollstuhl sitzt und blind ist, freut sich unbändig, sobald er meine Stimme hört. Wenn ich ihn füttere, versucht er meinen Arm zu greifen. Wehre ich seine Hand ab, beißt er sich aus "Wut" in den Handrücken. Sein Wasserkopf, der ständig nach einer Seite wegsackt, stellt meine Geduld auf eine harte Probe.

 

Auch wenn Willi gefüttert wird, spielt er unentwegt mit seinen Fingern. Ab und zu stößt er einen schrillen, tierischen Schrei aus. Wenn ich nicht aufpasse, spuckt er mir den Inhalt des letzten Löffels ins Gesicht.

 

Daniel, ein charmanter Junge aus Griechenland, hat einen unglaublichen Dickschädel. Gerne legt er sich auf einen der Tische. Besonders, wenn die darüber hängende Lampe an ist. Bei jedem Epilepsieanfall fällt er hart auf den Boden. Doch von seinem Ruheplatz lässt er sich genauso wenig fernhalten wie von den Kabeln der Stereoanlage. Leidenschaftlich fingert er an ihnen herum, um sie dann plötzlich mit einem heftigen Ruck aus der Wand zu reißen.

 

Von der Domestizierung der Wilden

 

 Mein Pädagogikstudium hatte mich auf eine solche Welt nicht vorbereitet. Ich musste mich nicht nur mit Schleim und Kot anfreunden, sondern auch mit mir bisher fremden Gewaltausbrüchen. Das alles hoffte ich mit viel pädagogischem Idealismus meistern zu können. Bestärkt wurde ich in dieser Haltung durch den für das Heim zuständigen Psychologen. Er war wie ich ein Softie und wurde von den ländlichen Mitarbeiterinnen nicht ernst genommen. Viele von ihnen waren Hausfrauen und Mütter, deren Kinder zum Teil schon das Elternhaus verlassen hatten. Sie warfen dem Psychologen vor, die Gruppen nur flüchtig zu kennen und sich noch nie dem Alltag in einer solchen Gruppe gestellt zu haben. Mich, den offenbar gescheiterten Akademiker, beobachteten sie mit einer Mischung aus Neugierde und Schadenfreude.

 

Ich machte anfangs alles andere als eine gute Figur. Spielte mit, als Jörgie mich an der Hand nahm und mit mir durch die Räume tobte. Schließlich verstand ich mich als antiautoritärer Pädagoge. Jörgie freute sich diebisch und kam immer mehr in Fahrt. Unter unserem Ansturm zerbrach die Holzverkleidung der Heizung. Freudestrahlend rannte er in das benachbarte Bad weiter. Dort splitterte die Fensterscheibe. Jetzt griffen die anderen Mitarbeiter ein und beendeten unseren wilden Amoklauf. In den nächsten Tagen wurde auf allen Gruppen viel über den verrückten Neuzugang gelacht.

 

Mein Psychologe gab mir den Rat, Eigenheiten der Behinderten nicht so ernst zu nehmen. Das fiel mir bei Martin besonders schwer. Sein Tick war, stundenlang irgendwelche Holzklötzchen an die Decke zu werfen. Klick-Klack, Klick-Klack. Auch wenn ich glaubte, alle infrage kommenden Wurfgeschosse weggeräumt zu haben: Martin wurde immer fündig. Klick-Klack, Klick-Klack. Einfach nicht hinhören, nahm ich mir vor. Klick-Klack, Klick-Klack. Michael hat eingekotet und muss gewickelt werden. Klick - Klack, Klick-Klack. Uwe nützt die fehlende Aufsicht und räumt in der Küche den Kühlschrank aus. Klick-Klack, Klick-Klack. Thilo hat einen epileptischen Anfall und bekommt ein Entspannungszäpfchen. Klick - Klack, Klick-Klack. Harald geht seiner Lieblingsbeschäftigung nach und wirft Wäsche aus einem der Schränke auf den Boden. Klick - Klack. Scheiß Klick-Klack.

 

Ich spüre in mir eine maßlose Wut. Am liebsten würde ich den Kerl packen und gegen die Wand werfen. Klick-Klack, Klick-Klack. Ich entreiße Martin das Klötzchen und schleudere es in eine Ecke. Ich schreie: "Hör auf mit diesem Scheiß!" Er grinst mich belustigt an und macht sich auf die Suche nach dem verschwundenen Klötzchen. Bald ist es wieder zu hören, dieses verdammte Klick-Klack, Klick-Klack.

 

Gemessen an Martin ist Andre pflegeleicht. Er geht wahnsinnig gerne spazieren. Andre hat einen kompakten Körper und das Gesicht eines Debilen. Wie ein Hund hat er seine bestimmten Anlauforte im Umkreis des Heimes. Dort stellt er sich breitbeinig hin und pisst los. Dabei kichert er vor sich hin. Anschließend bearbeitet er seinen Schwanz. Wenn ich ihn davon abzuhalten versuchte, entwickelte er Bärenkräfte.

 

Auch wenn niemand in der Nähe war, war mir anfangs Andres Wichsen peinlich. Mit der Zeit bewunderte ich die Bewohner des Marktfleckens, die an ihren ungewöhnlichen Mitbewohnern wie Andre keinen Anstoß nahmen.

 

Warum mir diese Jahre gutgetan haben.

 

Im Sommer 1974 war es mir mit Müh und Not gelungen, meine Doktorarbeit abzuschließen. Angesichts meiner schlechter werdenden Augen wurde ein Gehirntumor vermutet. Frühjahr 1975 flog ich voller Sehnsucht nach Sonne mit einem seelisch ebenfalls angeschlagenen Freund nach Mallorca. Dort kam es zu einer seltsamen Begegnung. (link Das zerbrochene Herz) Mit meinem neuen Begleiter, dem Erzengel Gabriel, lernte ich in den nächsten Monaten Knast und Psychiatrie kennen.

 

Meine Zigeunerjahre hatten begonnen. Ich schrieb ein Buch. Lebte zeitweise in einer Landkommune. War in Bonn, als die Grünen in den Bundestag einzogen. Ab und zu besuchte ich ihre öffentlichen Fraktionssitzungen. Es machte Spaß und ich bekam Lust, selbst in die Politik zu gehen.

 

Zurück in meiner fränkischen Heimat war ich im Herbst 1985 Kandidat der Grünen für den Bayrischen Landtag. Aber auch dieser Traum ging nicht in Erfüllung. Ich war dankbar, als ich in diesem Heim als unqualifizierte Hilfskraft angestellt wurde.

 

Mit Hilfe dieser Menschen, die ganz von meiner Zuneigung abhängig waren, lernte ich einen mütterlichen Umgang mit mir selbst. Das Leben hatte aus mir einen Freak gemacht, den nicht wenige für verrückt hielten.

 

Nach dem Mauerfall zog es mich zurück in mein geliebtes Berlin. Mir blieben noch drei Jahre, um mit schwächer werdenden Augen den Ostteil der Stadt kennenzulernen. Dann war ich wie meine Mutter blind. Jetzt musste ich mich mit der Innenseite ihrer Behinderung anfreunden.

Meine Erfahrungen mit geistig und körperlich Schwerstbehinderten

behinderungIch habe drei Jahre lang in einem Behindertenheim gearbeitet. Wenn ich davon erzählte, bekam ich oft zu hören: "Wunderbar, wie viel Liebe sie diesen armen Menschen entgegenbringen. Ich könnte das nicht." Diese Antwort drückt recht gut den Zwiespalt aus, den nicht wenige Menschen empfinden. Sie fühlen sich verpflichtet, auch im Behinderten den Menschen zu sehen und zu achten. Gleichzeitig provoziert sein Verhalten oft Abwehr bis hin zu Ekel.

 

 

Streiflichter aus einer unheimlichen Welt

Alfred ist ein schrecklicher Schleimer. Er kann nur Brei oder im Mixer Kleingemachtes essen. Manchmal ist sein Schleimfluss so heftig, dass sich sein Teller eher füllt als leert. Er schlingt das Essen hinunter. Dort muss es noch eine ganze Weile vor sich hin faulen. Anders lässt sich sein bestialischer Mundgeruch nicht erklären.

Gerhard, der im Rollstuhl sitzt und blind ist, freut sich unbändig, sobald er meine Stimme hört. Wenn ich ihn füttere, versucht er meinen Arm zu greifen. Wehre ich seine Hand ab, beißt er sich aus "Wut" in den Handrücken. Sein Wasserkopf, der ständig nach einer Seite wegsackt, stellt meine Geduld auf eine harte Probe.

Auch wenn Willi gefüttert wird, spielt er unentwegt mit seinen Fingern. Ab und zu stößt er einen schrillen, tierischen Schrei aus. Wenn ich nicht aufpasse, spuckt er mir den Inhalt des letzten Löffels ins Gesicht.

Daniel, ein charmanter Junge aus Griechenland, hat einen unglaublichen Dickschädel. Gerne legt er sich auf einen der Tische. Besonders, wenn die darüber hängende Lampe an ist. Bei jedem Epilepsieanfall fällt er hart auf den Boden. Doch von seinem Ruheplatz lässt er sich genauso wenig fernhalten wie von den Kabeln der Stereoanlage. Leidenschaftlich fingert er an ihnen herum, um sie dann plötzlich mit einem heftigen Ruck aus der Wand zu reißen.

Von der Domestizierung der Wilden

Mein Pädagogikstudium hatte mich auf eine solche Welt nicht vorbereitet. Ich musste mich nicht nur mit Schleim und Kot anfreunden, sondern auch mit mir bisher fremden Gewaltausbrüchen. Das alles hoffte ich mit viel pädagogischem Idealismus meistern zu können. Bestärkt wurde ich in dieser Haltung durch den für das Heim zuständigen Psychologen. Er war wie ich ein Softie und wurde von den ländlichen Mitarbeiterinnen nicht ernst genommen. Viele von ihnen waren Hausfrauen und Mütter, deren Kinder zum Teil schon das Elternhaus verlassen hatten. Sie warfen dem Psychologen vor, die Gruppen nur flüchtig zu kennen und sich noch nie dem Alltag in einer solchen Gruppe gestellt zu haben. Mich, den offenbar gescheiterten Akademiker, beobachteten sie mit einer Mischung aus Neugierde und Schadenfreude.

Ich machte anfangs alles andere als eine gute Figur. Spielte mit, als Jörgie mich an der Hand nahm und mit mir durch die Räume tobte. Schließlich verstand ich mich als antiautoritärer Pädagoge. Jörgie freute sich diebisch und kam immer mehr in Fahrt. Unter unserem Ansturm zerbrach die Holzverkleidung der Heizung. Freudestrahlend rannte er in das benachbarte Bad weiter. Dort splitterte die Fensterscheibe. Jetzt griffen die anderen Mitarbeiter ein und beendeten unseren wilden Amoklauf. In den nächsten Tagen wurde auf allen Gruppen viel über den verrückten Neuzugang gelacht.

Mein Psychologe gab mir den Rat, Eigenheiten der Behinderten nicht so ernst zu nehmen. Das fiel mir bei Martin besonders schwer. Sein Tick war, stundenlang irgendwelche Holzklötzchen an die Decke zu werfen. Klick-Klack, Klick-Klack. Auch wenn ich glaubte, alle infrage kommenden Wurfgeschosse weggeräumt zu haben: Martin wurde immer fündig. Klick-Klack, Klick-Klack. Einfach nicht hinhören, nahm ich mir vor. Klick-Klack, Klick-Klack. Michael hat eingekotet und muss gewickelt werden. Klick - Klack, Klick-Klack. Uwe nützt die fehlende Aufsicht und räumt in der Küche den Kühlschrank aus. Klick-Klack, Klick-Klack. Thilo hat einen epileptischen Anfall und bekommt ein Entspannungszäpfchen. Klick - Klack, Klick-Klack. Harald geht seiner Lieblingsbeschäftigung nach und wirft Wäsche aus einem der Schränke auf den Boden. Klick - Klack. Scheiß Klick-Klack.

Ich spüre in mir eine maßlose Wut. Am liebsten würde ich den Kerl packen und gegen die Wand werfen. Klick-Klack, Klick-Klack. Ich entreiße Martin das Klötzchen und schleudere es in eine Ecke. Ich schreie: "Hör auf mit diesem Scheiß!" Er grinst mich belustigt an und macht sich auf die Suche nach dem verschwundenen Klötzchen. Bald ist es wieder zu hören, dieses verdammte Klick-Klack, Klick-Klack.

Gemessen an Martin ist Andre pflegeleicht. Er geht wahnsinnig gerne spazieren. Andre hat einen kompakten Körper und das Gesicht eines Debilen. Wie ein Hund hat er seine bestimmten Anlauforte im Umkreis des Heimes. Dort stellt er sich breitbeinig hin und pisst los. Dabei kichert er vor sich hin. Anschließend bearbeitet er seinen Schwanz. Wenn ich ihn davon abzuhalten versuchte, entwickelte er Bärenkräfte.

Auch wenn niemand in der Nähe war, war mir anfangs Andres Wichsen peinlich. Mit der Zeit bewunderte ich die Bewohner des Marktfleckens, die an ihren ungewöhnlichen Mitbewohnern wie Andre keinen Anstoß nahmen.

Warum mir diese Jahre gutgetan haben.

Im Sommer 1974 war es mir mit Müh und Not gelungen, meine Doktorarbeit abzuschließen. Angesichts meiner schlechter werdenden Augen wurde ein Gehirntumor vermutet. Frühjahr 1975 flog ich voller Sehnsucht nach Sonne mit einem seelisch ebenfalls angeschlagenen Freund nach Mallorca. Dort kam es zu einer seltsamen Begegnung: Das zerbrochene Herz. Mit meinem neuen Begleiter, dem Erzengel Gabriel, lernte ich in den nächsten Monaten Knast und Psychiatrie kennen.

Meine Zigeunerjahre hatten begonnen. Ich schrieb ein Buch. Lebte zeitweise in einer Landkommune. War in Bonn, als die Grünen in den Bundestag einzogen. Ab und zu besuchte ich ihre öffentlichen Fraktionssitzungen. Es machte Spaß und ich bekam Lust, selbst in die Politik zu gehen.

Zurück in meiner fränkischen Heimat war ich im Herbst 1985 Kandidat der Grünen für den Bayrischen Landtag. Aber auch dieser Traum ging nicht in Erfüllung. Ich war dankbar, als ich in diesem Heim als unqualifizierte Hilfskraft angestellt wurde.

Mit Hilfe dieser Menschen, die ganz von meiner Zuneigung abhängig waren, lernte ich einen mütterlichen Umgang mit mir selbst. Das Leben hatte aus mir einen Freak gemacht, den nicht wenige für verrückt hielten.

Nach dem Mauerfall zog es mich zurück in mein geliebtes Berlin. Mir blieben noch drei Jahre, um mit schwächer werdenden Augen den Ostteil der Stadt kennenzulernen. Dann war ich wie meine Mutter blind. Jetzt musste ich mich mit der Innenseite ihrer Behinderung anfreunden.
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