Lebe dein Sterben - Stanley Keleman

Keleman.jpgDas Buch von Stanley Keleman "Lebe Dein Sterben!" erschien als amerikanische Ausgabe 1974, die deutsche Übersetzung 1994.

Zum Verfasser siehe: Stanley Keleman

 

Die Einheit von Körper, Geist und Seele

Sie stehen nicht im Widerspruch zueinander, sondern in einem Zwiegespräch. Jeder persönliche Lebensausdruck zeichnet sich durch den Grad der beteiligten, körperlichen Erregung aus. Chaos und Eros spielen zusammen. Aufgabe ist es, mit den vielen eigenen Facetten ins Gespräch zu kommen.

Verunsicherung ist produktiv, da sie uns auf Anteile aufmerksam macht, die in Deinem Leben bisher offenbar zu kurz kamen. Gegenüber gesellschaftlichen Vorgaben gilt es, die eigene Sprache zurückzugewinnen.

Als Plato auf dem Totenbett gebeten wurde, den Inhalt seiner Lehren in einem Satz zusammenzufassen. antwortete er: "Übe das Sterben!".

Sterben ist in unserer Kultur ein unbekanntes Ereignis. Der Tod macht uns nicht zum Opfer. Biologisches und psychologisches Leben sind zwei Seiten eines Prozesses. Es gilt, darauf zu achten, was diesen Prozess bremst oder vorwärtstreibt.

Goethe weigerte sich, den Tod von Freunden zur Kenntnis zu nehmen und versteckte sich, wenn ein Leichenzug vorbeizog. Er bestand darauf, dass in seiner Gegenwart der Tod nicht erwähnt werden durfte.

Im unserem Leben ist es ganz selbstverständlich, dass wir etwas verlieren und gleichzeitig etwas Neues finden. Darauf verweist die Rede vom großen und vom kleinen Sterben.

Der Körper "weiß", wie er zu sterben hat.

Aspekte unseres Lebens

a) der Grad der Selbstverbundenheit

Welchen Kontakt habe ich zu mir selbst?

b) der Grad der Selbstbildung

Wie sensibel nehme ich mein eigenes Erleben wahr?

c) die Formen des Selbstausdrucks

Wie facettenreich bringe ich mich selbst zum Ausdruck?

Diese drei Aspekte kann ich durch eine Intensivierung meines Erlebens fördern.

Über den Tod selbst können wir keine Aussagen machen. Aber "absterben" ist ein alltäglicher Vorgang und mit ihm kann man sich vertraut machen. Sterben in diesem Sinne heißt, eine Form aufgeben und in eine neue hineinfinden. 

Die Arten des Sterbens

Wir haben unserem inneren Zustand einen leibhaftigen Ausdruck zu geben und uns dann von diesen "Verkörperungen" immer wieder zu lösen und neue zu finden.

Solange ein Organismus lebt, expandiert und kontrahiert er. Dieses Ineinander von Ausdehnen und Sich-Zusammenziehen kennzeichnet das Lebendige. Ich riskiere mein Leben und damit mein Sterben, wenn ich das Ausdehnen übertreibe und nicht in seinen Gegenpol zurückfinde.

Beispiele für dieses "eruptive Sterben", mit dem sich der Körper gegen die Überforderung zur Wehr setzt, sind Herzinfarkte und Schlaganfälle. Sie scheinen unvermutet aufzutreten.

Halte ich dagegen den Körper immer in einer ängstlichen Anspannung und hindere ich ihn daran, seinen Raum zu erweitern, dann wird er sich durch eine Reihe schwächender und seine Vitalität vermindernder Krankheiten wie Krebs zu wehr setzen. Krebs kann als ein Schrumpfen in Niederlage und Hoffnungslosigkeit verstanden werden.

Angst und Ärger sind zwei Bewältigungsstrategien. Der ängstliche Mensch zieht sich in sich selbst zurück und riskiert damit eine zunehmende Enge. (Angst kommt von Enge)Der ärgerliche Mensch reagiert sich oft allzu schnell im Außen ab und vermeidet damit eine Ausdifferenzierung seiner Innenwelt. Auf diese Weise kann er zwar Kummer vermeiden, kümmert sich aber nur in einseitiger Weise um sich selbst.

Selbsterweiterung und Selbstsammlung müssen im Leben immer wieder neu gewagt und gesucht werden. Gerinnen oder eruptiver Ausbruch sind zwei unterschiedliche Stile des Sterbens. Jeder findet seinen Stil, sein Leben auszudrücken und in diesem Stil zu beenden.

 

Der Umgang mit dem Sterben

Sterben wird gesellschaftlich verwaltet. Unsere Gesellschaft predigt uns den tod des Helden, den Tod des Weisen (als resignative Hingabe an das Sterben), den Tod als Traum, als Schlaf, den Tod des Narren, der den Tod nicht wirklich ernst nehmen kann.

Der Märtyrertod genießt in vielen Gesellschaften ein hohes Ansehen. Für eine Sache zu sterben, verschafft Prestige. Diese Mythologien verstehen den Körper als Sklaven, benutzen ihn als Instrument. Der Körper wird gezwungen, für die Ideale des Verstandes zu leben und zu sterben.

Für den Verstand ist der Tod etwas Schreckliches. Keine der gängigen Mythologien gesteht der Leiblichkeit einen Eigenwert zu. Im Umgang mit unserer Leiblichkeit wird deutlich, welcher Mythologie wir uns verpflichtet fühlen. Unser Körper hat Anspruch auf Fülle, auf ein erfülltes Leben. Das englische "no-body" macht deutlich, dass Du ohne Deinen Body zu einem Niemand wirst.

Wendepunkte in unserem Leben machen uns bewusst, dass sich unser bisheriger Lebensstil überlebt hat. Mit den sexuellen Vorgaben wird uns ein Verständnis unserer Leiblichkeit nahegelegt. So begreift unsere Kultur den Mann als aktiven und die Frau als den passiv-empfangenden Teil.

Unsere Wendepunkte sind eine schöne Möglichkeit, das "kleine Sterben" einzuüben.

"Dein Sterben leben" heißt, sich immer wieder kundig zu machen und Deinen Lebensstil zu ändern.

Welche Verwandlungen spielen sich in dir ab und auf welch neue leibhaftige Form drängt Dein Körper?

Alle Gewaltvorstellungen zielen auf ein orgiastisches Lebensgefühl. Es gibt keine weibliche Vorstellung vom Sterben. Im Orgasmus erleben wir für einen Moment die Erfahrung, außer uns zu geraden. Das ist eine unheimliche Erfahrung, die uns fasziniert und uns gleichzeitig Angst macht.

Immer, wenn Erregung frei wird, steigen Gefühle auf, die wir nicht im Griff haben. Loslassen verlangt den Mut, unbedingt zu erleben.

Die Angst vor Einsamkeit hindert viele Menschen, unerfreuliche Beziehungen zu beenden. Hilflos zu werden, ist eine Vorstellung, die uns besonders ängstlich und kompromissbereit macht.

Sigmund Freud hat aufgezeigt, dass wir durch jede Verleugnung der Realität diese aufwerten und ihr ein besonders großes Gewicht verleihen.

 

Das Opfer

Wenn wir "Opfer" bringen, dann muten wir einem Teil in uns Verzicht zu. Unsere "Opfer" spiegeln unsere Selbstbehinderungen. sie spielen deshalb in unserem Selbstbildungsprozess eine wichtige Rolle.

 

Warum bin ich bereit, mich hinzuopfern?

Oft bringen wir Opfer, um unsere Ängste einzudämmen. Wir versuchen den Erwartungen unseres Gegenübers gerecht zu werden und verkörpern in unserer Muskulatur durch die Unterwerfung zunehmend den Lebensstil des anderen. Der "Opferbereite" demonstriert bereits in seiner Körperhaltung die Bereitschaft, nicht zu handeln. Er unterwirft sich. Beim "Opfer" wird der Anspruch auf ein erfülltes Leben auf die Zukunft verschoben.

Jedes "Sich-Zusammenreißen" (eine chronische Muskelkontraktion) verlangsamt unseren Lebensprozess und bremst unsere Lebendigkeit ab.

 

Die Vielschichtigkeit der eigenen Gefühle

Sie wird oft aus Angst oder Scham nicht zum Ausdruck gebracht. Kummer, der nicht ausgedrückt werden darf, lebt als organisches Leiden oder gestörtes Verhalten weiter.

Sich um sich selbst zu kümmern, heißt, jede Form von Kummer ernst zu nehmen.

Im Prozess des Sterbens wird die eigene Selbstzensur schmerzhaft bewusst. Das Gefühl, was man alles versäumt hat, wird übermächtig. Der eigene Mangel an Selbstausdruck wird am Lebensende quälend empfunden und löst das Gefühl aus, sein Leben nicht wirklich gelebt und ausgekostet zu haben.

Wir wehren uns gegen das Abschied nehmen, da wir es mit dem Gefühl, verlassen zu sein, gleichsetzen.

Als Sokrates sein Ende nahen fühlte, wurde er gefragt, wie er den letzten Tag gestalten möchte. Seine Antwort:

"Ich habe leider den Künstler in mir vernachlässigt und möchte deshalb ihm diesen letzten Tag widmen."

Oft wird Frauen am Lebensende bewusst, wie sehr sie auf ein eigenes Leben verzichtet haben. Ärger und Wut steigen hoch und sind legitimer Ausdruck dieser bitteren Einsicht.

 

Atem-Pause

Wenn Du in Dich hinein hörst:

welche Facetten von Dir lässt Du unausgedrückt?

Hast Du den Mut und die Kraft, Dich von Deinen Empfindungen überwältigen zu lassen?

In unserer Gesellschaft dominiert das Ideal eines gelassenen Sterbens. Wer trotzdem in diesem letzten Moment nicht abdanken will, stirbt unter Protest und löst damit Ärger aus. dabei ist es eine genauso legitime Variante des Sterbens.

Der Körper fühlt sich durch das Sterben nicht bedroht, sondern geht seinen Weg weiter. Koma-Patienten sind zwar bewusstlos, aber ihr Körper steht weiter in Kontakt mit seiner Umwelt. Der Körper hat das Recht, sich selbst zu beenden und er macht es auf die ihm vertraute, intelligente Weise.

 

Mythenbildung

Mit der Mythenbildung bringt der Mensch seine Vorstellungen von dem unergründlichen Ozean menschlicher Erfahrungen in eine für ihn verständliche Ordnung. Mit Hilfe der Mythen, denen wir uns verpflichtet fühlen, erfinden wir eine Geschichte, die uns sinnvoll erscheint.

Mit jedem neuen Nachdenken kann sich die Interpretation unseres Erlebens ändern. Menschen können sich permanent neu entwerfen. In diesem inneren Zwiegespräch kommt es darauf an, seine eigene Sprache zu finden und nicht vorschnell die Vorgaben der Gesellschaft zu übernehmen.

 

Erleben als Lehrmeister

Je mehr sich unsere Verbundenheit mit dem Leben vertieft, umso mehr begreifen wir, dass das Erleben unser Lehrer ist und wir es keiner Zensur unterwerfen sollten. Das Leben kann nicht geplant werden. Bewusst und unbewusst schaffen wir unsere eigenen Mythen.

 

Übung

Nimm dir fünf Atemzüge vor. Jeder besteht aus der Hälfte des vorhergehenden. Danach lass Deinen Atem wieder frei fließen.

Was spielt sich bei diesem Experiment in Dir ab?

Was waren das für Empfindungen, als Dein Atem immer knapper wurde?

Wie hat Dein Körper auf die Atemnot reagiert und was sagte Dir Dein verstand?

Standst Du unter Druck, sofort wieder Atem zu holen?

Welche Empfindungen haben Dich nach dieser Übung überschwemmt?

 

An sein Sterben denken

Die Frage, was befürchte ich, wenn ich an mein Sterben denke, provoziert Vorstellungen und Gedanken, erreicht aber nicht unbedingt die Gefühlsebene. Unsere Kultur unterstützt eruptives Sterben: Einschlafen, ohne aufzuwachen. Umfallen und sofort tot sein.

Mit solchen Idealen versucht die Gesellschaft, das Unheimliche am Sterben zu bannen. Sterben sollte möglichst kein lange Dahinsiechen sein, keine Kosten verursachen. Aber Sterben vollzieht jeder in dem Stil, den er schon bisher gelebt hat.

Wer seinem Erleben vertraut, weiß, dass er erst dann stirbt, wenn alle seine Persönlichkeitsanteile dazu entschlossen sind. Er kann diesen Zeitpunkt gelassen abwarten.

Der Tod überwältigt Dich nicht.

Es sei denn, Du bist schon bisher gewalttätig mit Deinem Körper umgegangen. Dann entscheidet er sich für diesen ihn vertrauten Stil des Beendens.

 

Gesellschaftliche Erwartungen an das Sterben

Unsere Kultur erwartet ein "resignatives, sprich: ergebenes Sterben" und duldet keinen Protest. Deshalb werden Sterbende isoliert und wie lebende Tote behandelt.

Im Mittelalter war Sterben noch eine öffentliche Angelegenheit und fand oft unter zufällig Vorbeikommender statt.

 

Die Flucht vor dem Sterben

Viele Menschen ziehen sich vom Leben zurück und wollen nicht sterben. Ihre Angst vor dem Sterben spiegelt ihre allgemeine Vermeidungsstrategie dem Leben gegenüber.

Leben in unserer Kultur verläuft einseitig:

das Gehirn wird wach gehalten und der Körper vernachlässigt.

Wir können uns einen Zustand ohne persönliche Identität nicht vorstellen und deshalb befürchten wir von der letzten Grenzüberschreitung einen Verlust. Leben besteht aber in einem Ineinander von

1) Aufrechterhaltung des Selbst,

2) seine Erweiterung durch neues Erleben

3) und der Wiederherstellung des Selbst auf einer neuen, komplexeren Ebene.

Das Leben verläuft nicht in einer ununterbrochenen Linie. Es hat Einbrüche, Wendepunkte. Aber unser Sicherheitsbedürfnis schreckt vor dieser Einsicht zurück und versucht unserem Leben im Rückblick einen durchgehenden Sinn zu geben. Im Erinnern versuchen wir, die Bruchstücke unserer Vergangenheit immer wieder neu zu einer Einheit zusammenzufügen. Wir verdrängen dabei sehr gerne Erfahrungen wie das Versacken, Öde, Leere und Langeweile, Verzweiflung und alle anderen Einbrüche, die es in unserem Leben auch gegeben hat.

 

Die Angst vor dem Alleinsein

Viele Menschen schrecken vor dem Alleinsein zurück, da ihnen die Konfrontation mit der eigenen Unausgeglichenheit Angst macht. Unsichere Menschen neigen dazu, sich durch einen chronischen Muskelpanzer das Gefühl von Halt(ung) zu verschaffen.

Der Sterbende fühlt, wie ein neuer Zustand von ihm Besitz ergreift. Außenstehende werten seine Mitteilungen oft als Halluzinationen ab und erschweren es dem Sterbenden, sich auf dieses neue Erleben einzulassen.

Viele Menschen sind bei der Geburt angespannt ins Leben gekommen. Diese im Körper gespeicherte Erinnerung wird beim endgültigen Abgang wieder wachgerufen. Die Körperzellen geraden in Aufregung und fühlen sich verpflichtet, noch einmal zu kämpfen. Viele ängstliche Menschen setzen in ihrem Lebensgefühl die bei der Geburt erfahrene Beengung fort. Der Sterbende wehrt sich, um nicht noch einmal Hilflosigkeit zu erfahren.

Beim Loslassen im Sterben verliert der Sterbende die Kontrolle über seinen Darm und dieser Ichverlust löst bei vielen Scham aus. Die Angst vor unpassender Ausscheidung ist ein Beispiel für in unserer Kultur tabuisierte Ängste. Die Angst vor dem Schreien, die Angst, nicht zu wissen, wie man es richtig macht, die Angst, nicht tapfer genug zu sein, die Angst, dadurch einer Autoritätsperson zu missfallen.

Nur ein Mensch mit ungelebtem Leben hat Angst, zu sterben.

Weisen des Sterbens

Erstarren oder Ausbrechen sind grundlegende weisen des Sterbens. Der Wunsch, unvermutet und spontan zu sterben, verweist auf die Sehnsucht, sein eigenes Sterben nicht leben zu müssen.

Verfrühtes Sterben wird als Programm empfunden, bei dem der Tod zu kommen scheint, bevor es Zeit ist.

Wir billigen Selbstmord, wenn er in Form eines Autounfalls gesucht wird. Kein Arzt sagt bei einem Krebsbefund zu seinem Patienten: "Irgendetwas in Dir will sterben."

Dabei ist es im Gespräch mit dem eigenen Körper möglich, ein neues Lebensprogramm zu entwickeln. Beim Sterben versucht der Körper im Gegensatz zum Orgasmus, wo er Energie verdichtet und steigert, Energie abzugeben. Symptome dafür sind die heraushängende Zunge, rollende Augen, Stuhlgang, Körperzuckungen, Erektionen.

Der Organismus weiß zu sterben, aber er reagiert auch auf Rückmeldungen. Langes, verzögertes Sterben kommt bei Menschen vor, die sich geweigert haben, bestimmte Seiten ihres Wesens zum Ausdruck kommen zu lassen.

Sie versteifen sich, dass eine bestimmte ihrer Eigenschaften unbedingt die Oberhand behalten müsse.

"Jedermann will immer weiter leben. Die richtige Weise, weiter zu leben, ist, Dein Sterben zu leben."

Stanley Keleman, Dichter, Maler, Bildhauer, Autor, Gruppenleiter und Erzieher

Geboren in Brooklyn/ New York. Lernte u.a. bei Karlfried Graf Dürkhein im Zentrum für religiöse Studien in Todmos/ Schwarzwald. Schüler von Nina Bull, die sich mit Fragen der körperlichen und kinaesthetischen Intelligenz beschäftigte, durch Alexander Lowen in die bioenergetische Analyse eingeführt.