Sexueller Missbrauch – oder wohin nicht gewagtes, schwules coming out führen kann

Hartmut von Hentig – ins Zwielicht geraten

Ich habe mich nie mit Hartmut von Hentigs sexueller Orientierung beschäftigt. So begeistert sprach er von Kindern und Jugendlichen, dass ich ihn mir immer als Familienvater vorgestellt habe. Seit die Odenwaldschule für Schlagzeilen gesorgt hat, weiß ich, dass sein Freund und Lebensgefährte Gerold Becker heißt. Dieser, ein ausgebildeter Theologe und Pädagoge, war von 1972 bis 1983 Leiter dieses berühmten Internats.

Schon vor zehn Jahren wandten sich ehemalige Schüler an die Redaktion der "Frankfurter Rundschau" und berichteten von sexuellen Übergriffen. Der Artikel, der diese Vorwürfe öffentlich machte, löste keine Diskussion aus. Erst jetzt, wo viele pädagogische Einrichtungen sich mit ähnlichen Beschuldigungen auseinandersetzen müssen, beschäftigt man sich auch mit den damaligen Übergriffen an der Odenwaldschule.

Wie sah der sexuelle Missbrauch aus?

Ein ehemaliger Schüler berichtet, dass er im Schlafzimmer des Leiters mit seinen Eltern telefonieren durfte. Während des Anrufs streichelte dieser seinen Genitalbereich und befriedigte sich anschließend selbst. Der Schüler sagt, dass er hinterher immer sehr bedrückt war. Noch grösser ist sein Zorn auf den Musiklehrer, der ihn "regelrecht abgerichtet" hat. Dieser nahm die Jungen seiner Wahl mit in den Urlaub und vermittelte sie an schwule Freunde weiter.

Selbst als Schwuler, dem die Sehnsucht nach hautnahen Kontakt mit Jugendlichen nicht fremd ist, kann ich diese erschlichene und erpresste Lust nicht gutheißen oder bagatellisieren. Andere Schüler haben die schwüle Atmosphäre im Internat und die "Orgien" während des Duschens " nicht als belastend erlebt, einige fanden die Sexspiele lustig. Weil es damals zu keiner Rebellion kam, wagten sich die Traumatisierten erst Jahrzehnte später an die Öffentlichkeit.

Wie ging es mir in dieser Zeit?

Als sich diese Art sexuellen Vergnügen an der Odenwaldschule einschlich, erlebte ich in Westberlin eine Zeit fröhlichen Aufbegehrens. Zum Schrecken mancher Schulleitung verteilten wir vor ihrem Gymnasium Flugblätter, die u.a. die Einrichtung von "Bumsräumen" forderten. Angeregt zu solchen Kampagnen hatte uns Wilhelm Reich mit seiner Sexpol-Bewegung. Ihr war es im Berlin der dreißiger Jahre gelungen, viele Jugendliche für linke Ideen zu interessieren.

Wir in der ApO (Außerparlamentarische Opposition) hatten Reichs Bücher entdeckt, die als "Raubdrucke" wieder zu haben waren. Besonders gefragt war das Buch "Die Funktion des Orgasmus". Aber offen über die eigenen Orgasmusschwierigkeiten zu sprechen, fiel selbst uns, die wir uns so tabulos gaben, schwer.

Natürlich machte es uns Spaß, andere mit Sexparolen zu schocken. Aber wie weit man dabei gehen sollte, sorgte in der gerade entstehenden Schwulenbewegung für Streit. Wir Anarchisten wären gerne als "Schwule Befreiungsfront" angetreten. Aber die Mehrheit schreckte vor dem Wort "schwul" noch zurück und deshalb entschied man sich für "Homosexuelle Aktion Westberlin".

Selbstfindung in der Generation vor uns

Ich bin mir sicher, dass Hartmut von Hentig (Jahrgang 1925) und sein Freund Gerold Becker (Jahrgang 1936) auch den Begriff "homosexuell" vermieden hätten. Sie fühlten sich in ihrem Lebensgefühl nicht vom "Sexus", sondern vom "Eros" beflügelt. Sicher haben sie sich mit dem antiken Griechenland auseinandergesetzt, wo Jungen besondere Aufmerksamkeit geschenkt wurde. Während in der übrigen antiken Welt Kinder oft wie Tiere behandelt wurden und keinerlei Schutzrechte besaßen, entdeckten die Griechen (männliche) "Jugend"" als eine besondere Lebensstufe. Freilich sah die Erziehung in Sparta, wo man die heranwachsenden Jungen zu "Kampfmaschinen" ausbildete, anders aus als in Athen, wo man sich nicht nur um einen athletischen Körper, sondern auch um ein harmonisches Wesen bemühte. Aber selbst bei dieser lustfreundlicheren Erziehung ging es nicht so sexuell freizügig zu, wie es sich die Knabenliebhaber späterer Zeiten ausmalten. Zu diesem ernüchternden Ergebnis kommt jedenfalls Michel Foucault, der die pädagogischen Anleitungen dieser frühen Zeit ausgewertet hat. Dem Älteren wurde Enthaltsamkeit empfohlen und im sexuellen Begehren ein Problem gesehen.

Trotzdem kann ich die Schwärmereien der Homosexuellen vor uns, die nicht offen von ihrer Veranlagung sprechen konnten, gut verstehen. Auch mich faszinierte als Schüler die Darstellung männlich-nackter Körper, die ganz selbstverständlicher Teil meiner Latein- und Griechischbücher war. Michelangelos "David", der so manche schwule Bar oder Sauna schmückte, fanden wir Schwulenbewegten eher kitschig.

Hartmut von Hentig und sein Freund sind im Faschismus aufgewachsen. In der neugegründeten Bundesrepublik galt weiter der Paragraph 175 in der durch die Nazis verschärften Fassung. Jedem homosexuellen Kontakt zwischen Männern drohte die Strafverfolgung. Selbst die Liberalisierung dieses Paragraphen, die im September 1969 in Kraft trat, duldete diese Variante sexuellen Begehrens nur bei Männern über 21 Jahre. Jeder dieser Übergriffe an der Odenwaldschule wäre bei Anzeige mit Gefängnis bestraft worden.

Die "Auslieferung" der Pädophilen

An der Gründung der "Homosexuellen Aktion Westberlin" waren auch Pädophile beteiligt. Männer dieser Orientierung trafen sich damals im "Datscha", einer Bar am Nollendorfplatz. In dieser Zeit lernte ich einen Psychologen kennen, der auf pubertierende Jungen stand. Im neuen Fach "Sexualpädagogik" war er ein gefragter Experte.

Das Klima für diese Gruppe wurde härter, als Teile der Frauenbewegung das Thema "Missbrauch" entdeckten. Es machte möglich, den Mann wieder als "triebhaftes Wesen" zu thematisieren. Mit diesem Klischee korrespondierte die Idealisierung des Kindes zu einem asexuellen, unschuldigem Wesen. Jeder, der hautnahen Kontakt mit Kindern und Jugendlichen suchte, machte sich jetzt verdächtig.

Ein Freund von mir war ein begnadeter Religionspädagoge an einer Grundschule in Kreuzberg. Wenn er Märchen erzählte, suchten nicht wenige Kinder seine körperliche Nähe. Bei dem wachsenden Misstrauen wurde es ihm immer schwerer gemacht, seinen Stil beizubehalten. verbittert starb er kurz nach seiner Pensionierung.

Aber auch die schwulen Funktionäre vermieden es, für die Pädophilen Partei zu ergreifen. Ich war damals bei den Grünen, die sich als einzige Partei für eine Freigabe der Sexualität einsetzte. In einer Demokratie darf sexuelles Verhalten nicht normiert und vorgeschrieben werden. Der Staat darf nur eingreifen, wenn Abhängigkeit ausgenutzt wird oder Bedürfnisse mit (psychologischer) Gewalt durchgesetzt werden.

Als die Partei in Nordrhein-Westfalen dieses Anliegen in ihr Wahlprogramm aufnahm, setzte eine gnadenlose Medienkampagne ein. Den Grünen wurde Sympathie mit Kinderschändern unterstellt. Also zogen auch die Grünen den Schwanz ein und vermieden es, mit diesem Thema für Schlagzeilen zu sorgen.

Angesichts dieser stattgefundenen Tabuisierung bieten die jetzt bekannt werdenden Übergriffe auch eine Chance. Denn sie machen bewusst, wie viele offene Fragen es im Umgang mit der Lust noch gibt. Ich wäre als Junge dankbar gewesen, wenn mich ein Älterer in die körperliche Liebe eingeführt hätte. Als Honorarkraft habe ich vor dreißig Jahren in einem Freizeitangebot für Kreuzberger Arbeiterkinder gearbeitet. Außer mir waren auch fünf Mütter angestellt. Ihre Kommunikation mit den Jungen bestand hauptsächlich in sexuellen Anzüglichkeiten. Wie ich später erfuhr, führte eine von ihnen einen Teil der Jungen in den Geschlechtsverkehr ein. Ich glaube, sie hat das ganz gut gemacht. Ich als Mann musste jeden körperlichen Kontakt mit den Mädchen, die mich laufend zu provozieren suchten, vermeiden. Die Mütter dagegen lebten ihr Bedürfnis nach Nähe ungeniert aus. Sie profitierten von dem Vorurteil, dass Frauen keinerlei sexuelle Absichten verfolgen.

Es lohnt sich also, über all diese Fragen in Ruhe noch einmal nachzudenken und zu diskutieren.

Daniel Schneider (Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!)