Ich hatte lange Haare, fuhr einen Citroen und meist lagen auf dem Rücksitz ein paar Bücher oder eine Zeitung. Klar, dass ich an der Grenze von den Vopos (Volkspolizisten) der DDR regelmäßig rausgeholt, gefilzt und manchmal Stundenlang festgehalten wurde. Dabei gingen wir "langhaarigen Affen" (Springer-Presse) für ihre Staatsform, den Sozialismus, auf die Straße.
Wahrscheinlich ahnten sie, dass wir auch gegen ihr Spießertum rebellieren würden. Deshalb wurde ich Linksradikaler schikaniert, während das Mercedes-Schwein in der Reihe vor oder hinter mir durchgewinkt wurde. Ich war erleichtert, wenn ich Westberlin oder Westdeutschland erreicht hatte. Hier fühlte ich mich wieder sicher und der Willkür von Beamten oder Polizisten weniger schutzlos ausgeliefert.
Die zwei Seiten einer Grenze
Grenzen können Schutz und Sicherheit bieten, aber wie in der DDR Menschen auch gefangen halten. Wir träumen von grenzen-loser Freiheit und sehnen uns gleichzeitig nach Sicherheit und Ordnung. Als die DDR-Regierung die Mauer öffnete, war der Untergang dieses Staates nicht mehr aufzuhalten. Mit der "Währungsunion" hofften Politiker in Ost wie West, den Strom der Flüchtenden wieder in den Griff zu bekommen. Aber viele Ossis blieben misstrauisch und suchten im verklärten Westen Arbeit.
Die westdeutsche Industrie freute sich über die 16 Millionen neuer Kunden, die dank der vorhandenen Produktionskapazitäten mitversorgt werden konnten. Manches Unternehmen ging im ehemaligen Osten auf Schnäppchenjagd oder kaufte Betriebe auf, die sich zu einer möglichen Konkurrenz hätten entwickeln können. Die neuen Mitbürgerinnen und Mitbürger mussten in das westdeutsche Sozialversicherungssystem integriert werden, das schon vor der Wiedervereinigung finanziell in eine bedenkliche Schieflage geraten war.
Weil die DDR zu den zwanzig führenden Industrienationen gezählt wurde, hatte keiner mit einem völlig heruntergewirtschafteten Land gerechnet. Viele Städte standen kurz vor ihrem baulichen Verfall. Obwohl Milliarden investiert wurden, liegen die versprochenen, blühenden Landschaften noch in weiter Ferne. Der Preis für die Abschaffung der innerdeutschen Grenze war ein sich weiter verschuldender Nationalstaat und damit auch ein Verlust an Stabilität und Ordnung.
Auf der Flucht nach vorne: die Euro-Zone
Weder Frankreich noch Großbritannien freuten sich über die neue Großmacht in der Mitte Europas. Schon die alte Bundesrepublik hatte man um ihre stabile Währung und um ihre erfolgreiche Exportindustrie beneidet. Mit dem Vorschlag einer Währungsunion hoffte der Europäer und Bundeskanzler Helmut Kohl die vorhandenen Ängste abbauen zu können. Die Deutschen selbst konnte er für diese Idee nicht begeistern. Viele fürchteten, dass sich der vorgeschlagene Euro sehr schnell zu einem T-Euro entwickeln würde. Wer gewohnt war, regelmäßig essen zu gehen, bekam die Umstellung schon nach wenigen Monaten in seinem Geldbeutel schmerzhaft zu spüren. Die Wirte nahmen jetzt in Euro, was sie zuvor in DM verlangt hatten. Bäcker- und Metzgerhandwerk schlossen sich an. Nur die harte Konkurrenz der Diskounter untereinander verhinderte eine ähnlich schnelle Preiseskalation bei den übrigen Lebensmitteln.
Die Folgen der Deregulierungen
Plötzlich gab es im neuen Euro-Raum Kredite, wie sie bisher nur in Deutschland üblich waren. Nämlich zu einem günstigen Zinssatz von um die drei Prozent. Viele Spanier ließen sich überzeugen, eine Immobilie zu kaufen. Griechenland modernisierte seine Armee und kaufte sich sündhaft teure Waffen, die natürlich aus Deutschland kamen. Unsere Exportindustrie profitierte von der Neigung in vielen Ländern, das neue Geld leichtfertig auszugeben und sich zu verschulden. Weil Unternehmen in Irland ihre Gewinne nicht versteuern mussten, erlebte das Land einen rasanten, wirtschaftlichen Aufschwung. Überall wurden in der Erwartung, damit Investitionsanreize zu schaffen, die Steuern für Reiche gesenkt. In der Hoffnung auf ein ähnliches Jobwunder wie in Amerika akzeptierte die Politik einen Niedriglohnsektor und tolerierte immer mehr nicht sozialversicherungspflichtige Tätigkeiten und Zeitarbeitsfirmen. Auch hier wurden Grenzen abgebaut in der Hoffnung auf mehr wirtschaftliche Dynamik. Steuereinnahmen und die Einzahlungen in die Sozialkassen gingen zurück. Um wachsende Arbeitslosenzahlen zu verhindern, finanzierte der Staat Kurzarbeit oder stockte Niedriglöhne auf. Die gesetzlichen Krankenkassen klagten über die wachsende Zahl von Mitgliedern mit geringen Beiträgen.
Immer größere Geldströme umkreisten den Globus auf der Suche nach einer schnellen Rendite. Selbst Experten fiel es immer schwerer, zwischen Papieren, die einen realen Wert spiegelten, und Spekulationspapieren zu unterscheiden. Schließlich platzte eine Blase nach der anderen und immer mehr Staaten mussten eingestehen, kurz vor dem Bankrott zu stehen.
Hilflose Sanierungsmaßnahmen
Jetzt begann die Zeit der Rettungsschirme, um die wachsende Geldentwertung wieder in den Griff zu bekommen. Nach der Zeit des billigen Geldes und des Lebens auf Pump sollen sich die Staaten plötzlich gesund sparen. Selbst die Spekulanten flüchten inzwischen in Sachwerte. Die Preise für Gold, Silber, Rohstoffe, aber auch für Anbauflächen für Nahrungsmittel steigen. Immer mehr (ausländische) Fondgesellschaften kaufen in den ostdeutschen Bundesländern Land auf. Da die meisten Flächen von einer bundeseigenen Treuhandgesellschaft verwaltet werden, profitiert der Bundesfinanzminister von den rasant ansteigenden grundstückspreisen.
was Ostdeutschland positiv von Westdeutschland unterscheidet: die in weiten Teilen noch nicht zersiedelte Landschaft, gerät immer mehr in die Hände von neuen Großgrundbesitzern. Ausgerechnet diese ökologischen Nischen, die das Kapital dieser Gegenden darstellen und einmal Besucher anlocken könnten, werden der Spekulation überlassen.
Diese Art der Sanierung wird den Protest von immer mehr Menschen provozieren und den drohenden Staatsbankrott eher beschleunigen als verhindern. Man kann nicht leichtfertig Grenzen abschaffen und Chaos zulassen, um anschließend Ordnung mit Zwangsmaßnahmen von oben durchzusetzen. Es geht nur mit den Menschen und nicht über ihre Köpfe hinweg. Aber werden das Politiker begreifen, die sich schon lange nicht mehr verpflichtet fühlen, ihr Handeln einsichtig zu machen?