Aus Franks Ausreiseantrag (12.9.83)

Franks Antrag auf Ausreise

Calwe im September 1983

"Hiermit stelle ich, Frank Schüler, den Antrag auf Aberkennung der Staatsbürgerschaft und Ausreise aus der DDR in die BRD.

 Gründe:

...Ein erschütterndes Bild von den wenigen neunzehn Jahren, die ich auf der Welt bin und in der DDR lebe, zeichnet sich, wenn ich zurückdenken muss und jetzt den Entschluss verwirkliche, diesen Ausreiseantrag zu schreiben, ab. Ich habe hier lernen müssen, dass man als homosexueller Mensch, der dazu steht und sich nicht versteckt, Mensch zweiter Klasse ist und durch die gesellschaftliche Umwelt ein trostloses Leben führt, das nichts wert ist und es an Sinn fast gänzlich fehlen lässt.

Man hört es oft, dass die DDR der Jugend eine Perspektive für ihre Zukunft bietet. Aber es stimmt wohl nur in soweit, wenn sich die Menschen bedingungslos anpassen und ihre Kreativität gänzlich verschenken,   um nicht bei denen anzuecken, die hier das Sagen haben.

Wo alte Menschen die Macht haben und ihr eigenes Leben nicht mehr überdenken müssen, verlaufen sich junge Menschen sehr schnell. Es sind diese vielen sozialistischen Spießer und Funktionäre, die uns ablehnen, weil sie selbst nicht Leben und künstlerischen Ausdruck verbinden können. Die Gesellschaft der DDR hat mich in die Rolle des Versagers gedrängt, wobei ich kein Einzelfall bin. 1980 die Schule, 1982 die Lehre hingeworfen. Wenn man Menschen krank macht, dann wird das zum Eckpfeiler ihrer Zukunft. Das geschieht in der ach so sozialen DDR, wobei man mir immer wieder versichert hat, dass ich noch lange kein Fall für die Klinik bin. Außerdem seien die Nervenkliniken überfüllt. Wann wird man aufgenommen? Wenn man Amok läuft oder gänzlich verrückt geworden ist?

Bei der Staatssicherheit hat man mir 1981 gesagt, dass Menschen, die sich dem Sozialismus in den weg stellen, erbarmungslos aus dem Weg geräumt werden. Dort fiel mir zum ersten Mal das Jahr 1933 ein. Aber auch, wenn ich abends durch die Straßen meiner Heimatstadt Calve ging und aufgrund meines Schwulseins von Mitbürgern beschimpft und angegriffen wurde. So müssen sich Juden 1933 in Deutschland gefühlt haben. Mein bisheriges Leben ist ein einziges Fiasko und ich bin einsam geworden. Mein Leben verbietet es mir, einem Staat zu dienen, der mich ständig missbilligt. Man ist als Schwuler fast Freiwild. Das haben mich die Angestellten im Strafvollzug in Halle spüren lassen. Dort hat meine Verachtung gegenüber den Vertretern dieses Staates stark zugenommen. Nicht nur hat man zugelassen, dass sich die Gefangenen gegenseitig misshandeln. Viele junge Menschen haben versucht, sich das Leben zu nehmen. Ein Junge wurde sogar totgeschlagen. Das geschieht im angeblich bisher freiesten Staat auf deutschem Boden, wo mindestens siebzig Strafanstalten existieren. Dabei hat man stolz angekündigt, dass Strafanstalten der Vergangenheit angehören. Genauso frech wird behauptet, dass es in der DDR keine politischen Gefangenen gibt.

Dass ich bisher kein glückliches Leben geführt habe, darf sich nicht fortsetzen. Mit Hilfe der Staatsbürgerschaft der BRD will ich diese sinnlosen Jahre beenden. Von dort will ich nach Indien übersiedeln. Auch wenn sie diesen Antrag ablehnen werden, werde ich Wege finden, dieses Vorhaben zu realisieren."